Theorien zur Gentrifizierung
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Der Begriff Gentrifizierung ist eine Eindeutschung von Gentrification. In einem wissenschaftlichen Aufsatz wurde er zum ersten Mal 1964 von der deutsch-britischen Soziologin Ruth Glass verwendet. Im Englischen bedeutet Gentry niederer Adel, im Unterschied zu Nobility, dem Hochadel. Nun ist der Adel, offiziell jedenfalls, in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg abgeschafft worden. Auf heutige Verhältnisse übertragen könnte man Gentry mit "die Wohlhabenden, die Reichen und die Neureichen" übersetzen.
Gentrifizierung also: eine Abfolge aus Sanierung oder Abriss alter Gebäude, Neubauten, steigenden Mieten und Preisen und einer anschließenden Verdrängung von Menschen, die sich diese nicht mehr leisten können, durch die Wohlhabenden, die Reichen und die Neureichen. Man könnte es auch "Verneureichung" nennen. Andere wollen lieber von Modernisierung sprechen. Das klingt positiv, verschleiert aber, dass davon nicht alle profitieren, ja manchmal gar nicht profitieren sollen.
Loretta Lees, Tom Slater und Elvin Wyly haben in ihrem Buch Gentrification[1], das derzeit als bestes Überblickswerk zum Thema gilt, eine treffendere Erklärung gefunden: "Gentrifizierung ist die Speerspitze der neoliberalen Stadtentwicklung."
Es stimmt zwar, dass es Verdrängung von Bewohnern aus Stadtteilen bereits seit dem 19. Jahrhundert immer wieder gegeben hat. In ihrer heutigen Form hat sie jedoch in den späten sechziger Jahren richtig angefangen. In Fahrt ist sie dann in den Siebzigern gekommen, als sich die neoliberale Wende anbahnte (die beiden ersten Experimente neoliberaler Politik waren der Putsch gegen Salvador Allende in Chile 1973 und die darauf folgende Wirtschaftspolitik von Pinochet sowie die Umschuldung von New York City 1975, nachzulesen in David Harveys Eine kurze Geschichte des Neoliberalismus). Credo des Neoliberalismus ist, dass der Staat sich aus dem Wirtschaftsgeschehen möglichst rauszuhalten hat und dass ein freier Markt am Ende für alle die beste Lösung produziert. Wenn es um Wohnraum und Stadtentwicklung geht, ist dies dann der freie Immobilienmarkt. Irgendwann wohnen dann alle schöner, man muss nur warten können. Aber wie John Maynard Keynes schon sagte: Langfristig sind wir alle tot.
Inhaltsverzeichnis
Die drei Wellen der Gentrifizierung
Lees, Slater und Wyly haben drei Wellen der Gentrifizierung identifiziert:
1. Welle ca. 1965 – 1973 (Ölkrise): Die Gentrifizierung tritt in einigen Metropolen (New York, London) zunächst als Einzelphänomen auf. In der Folge kaufen Investoren in schwach entwickelten Stadtteilen verstärkt Immobilien auf. Dabei kommt es auch zu Entmietungen, in dem Altmietern Strom und Wasser abgestellt werden, damit diese endlich wegziehen. In besonders drastischen Fällen werden Wohnungen sogar demoliert.
2. Welle ca. 1978 – 1990: Die Gentrifizierung greift auch auf nicht-globale Städte über. Das rasante Wachstum des Dienstleistungssektors in den Jahren von Reagonomics, Thatcherism und beginnender Computerisierung schafft zunehmend Jobs, die keine industrielle Infrastruktur brauchen und in Innenstadt-Quartieren angesiedelt werden können. Die Rezession Anfang der 90er verlangsamt diese Entwicklung zunächst.
3. Welle seit ca. 1995: Die Gentrifizierung erfolgt nun verstärkt als „Modernisierung“ und Inwertsetzung ganzer Stadtteile und im Kontext eines globalen Standort-Wettbewerbs von Großstädten. Das CDU-Konzept von Hamburg als "wachsender Stadt" mit Prestige-Projekten folgt dieser Logik. Politik und Investoren arbeiten hierbei nicht selten Hand in Hand, um die Innenstadt für den globalen Wettbewerb "attraktiv" zu machen.
Weil London und New York die ersten Städte waren, in denen die heutige Gentrifizierung in Gang kam, ist sie für diese beiden besonders gründlich untersucht worden. Lees, Slater und Wyly beschreiben konkret anhand von zwei Stadtvierteln, Barnsbury in London und Park Slope in Brooklyn, die verschiedenen Phasen der Gentrifizierung, die dort bis zur "Super-Gentrifizierung" fortgeschritten ist (so weit ist es in Hamburg noch nicht gekommen).
Fallbeispiel Barnsbury in London
Barnsbury ist ein Viertel des Stadtteils Islington, der nördlich der Londoner Innenstadt und des Bankenviertels, der "City", liegt. Es entstand um 1820 als Wohnviertel der oberen Mittelschicht mit Stadthäusern im Georgianischen Stil. Der Verfall begann nach dem Zweiten Weltkrieg und wurde maßgeblich durch den Greater London Plan von 1944 ausgelöst, der eine Aufwertung der Vorstädte zu Lasten der Innenstadtviertel vorsah. Der New Town Development Act von 1952 förderte die Abwanderung nach Suburbia weiter.
Ende der 1950er war Barnsbury ein dicht besiedeltes Arbeiterviertel mit inzwischen heruntergekommener Bausubstanz, in dem zum Teil mehr als 40 Menschen in einem Stadthaus wohnten. Bäder und Toiletten mussten mit vielen anderen geteilt werden. 1957 wurde dann die Mietpreisbindung für unmöblierte Wohnungen aufgehoben, und 1959 stellte ein weiteres Gesetz, der Housing Purchase and Housing Act, 100 Millionen Pfund für Investitionen in alte Häuser und die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen in Innenstadtteilen bereit. Lees, Slater und Wyly sehen hier den Anfang der Gentrifizierung von Barnsbury, als in der Folge Architekten, Stadtplaner, Lehrer, Sozialarbeiter und auch Polizeibeamte nach Barnsbury zogen – die große Mehrheit Labour-Wähler, die an Barnsbury gerade schätzten, dass dort jedes elitäre Upper-Class-Gehabe fehlte.
Ab Mitte der 1960er "entdeckten" allmählich auch Immobilienhändler das Viertel: Sie kauften vermietete Häuser, vertrieben die Mieter, teilweise unter Androhung von Gewalt (bis hin zu Morddrohungen, wie in verschiedenen Untersuchungen dokumentiert), und verkauften die leeren Häuser mit beträchtlichem Gewinn an weitere Neuankömmlinge. Die Londoner Stadtverwaltung, der Greater London Council, beteiligte sich aktiv an der Umstrukturierung und kaufte ganze Straßenzüge, die dann modernisiert und teuer neuvermietet wurden.
Das Ergebnis dieses Prozesses: Kostete 1966 ein Haus am Lonsdale Square 9000 Pfund, konnte man es 1972 schon für 35.000 Pfund verkaufen. Eine Vervierfachung des Preises innerhalb von nur sechs Jahren! 1972 waren bereits 60 Prozent aller Häuser modernisiert und an neue Eigentümer verkauft. Ein Jahr zuvor war Barnsbury wegen seiner Architektur zum erhaltenswerten Viertel erklärt worden, was sich darin äußerte, dass öffentliche Gelder eher für die Konservierung des georgianischen Straßenbilds als für die Verbesserung der Substanz der restlichen heruntergekommenen Häuser ausgegeben wurden.
In den 1980er Jahren folgte dann die zweite Welle der Gentrifizierung, in der zum Beispiel die alte Landwirtschaftshalle des Viertels in ein Business Design Center umgewandelt wurde. Die frühere innerstädtische Kleinindustrie und die Werkstätten waren Ladenbüros oder Antiquitätenläden gewichen. Waren die Gentrifier der ersten Welle oft noch im Öffentlichen Dienst beschäftigt gewesen, arbeitete die zweite Welle größtenteils in der privaten Wirtschaft und zunehmend im nicht weit entfernten Bankenviertel.
Von diesem ging dann die dritte Welle aus, die Tim Butler und Loretta Lees die "Supergentrification" genannt haben. Eine neue globale Finanzmarktelite "rekolonisierte ein bereits gentrifiziertes Viertel". Mit den Preisen, die sie zahlte, konnten selbst die vorherigen Gentrifier nicht mithalten. Prominentester Neuzugang der frühen 1990er war Tony Blair, der sein Haus nach seinem Wahlsieg 1997 für den fast verdoppelten Wert von 615.000 Pfund verkaufen konnte. 2001 wurde es erneut verkauft, diesmal für 1,25 Millionen Pfund. Heute werden zwei Drittel der Einwohner von Barnsbury demografisch zur global vernetzten Elite aus Finanz- und Kulturwelt gezählt.
Barnsbury ist mit dieser sehr früh begonnenen Entwicklung gewissermaßen ein Prototyp für Entwicklungen, die mit Verzögerung auch in vielen anderen Städten der Welt passieren. Es zeigt auch, wie wichtig Gesetze zur Deregulierung des Immobilienmarktes sind, um die Gentrifizierung in Gang zu bringen.
Fallbeispiel Park Slope in Brooklyn, New York
Ebenfalls in den 1960ern begann die Gentrifizierung im Brooklyner Viertel Park Slope. Wie Barnsbury war es anfangs eine wohlhabende Vorstadt südlich von Brooklyn Heights, die sich nach der Eröffnung der Brooklyn Bridge 1883 entwickelte. Der charakteristische Stadthaustyp sind hier die so genannten Brownstones mit drei bis vier Stockwerken. Die Mittelschicht-Karawane zog allerdings schon früh weiter in andere Vorstädte, und im Zuge der Weltwirtschaftskrise der 1930er verkam Park Slope immer mehr, so dass es bald offen als Slum bezeichnet wurde. In den 1960ern und 1970ern waren Drogengeschäfte, Bandenkriege und Kleinkriminalität alltäglich, und etliche Häuser standen leer.
Anders als in London unternahm die Stadt aber lange Zeit aktiv gar nichts, um diesen Zustand zu ändern. Die erste Welle der Gentrifizierung wurde zunächst nur durch Privatleute angestoßen, die Mühe hatten, überhaupt Kredite zu bekommen, weil die meisten Banken ein neu gekauftes Haus in Park Slope nicht als Sicherheit akzeptierten. Die Modernisierung wurde häufig in Eigeninitiative von den Neueigentümern selbst durchgeführt, weil nur dann überhaupt Darlehen gewährt wurden.
Vorreiter war hier Everett Ortner, der ab 1966 mit Freunden und Bekannten im Park Slope Betterment Committee Häuser kaufte. Ihnen ging es weniger darum, ihr Geld gut anzulegen, als vielmehr inspiriert von der Aufbruchstimmung der Sechziger einen alternativen Stadtteil aufzubauen. Das gelang: Innerhalb weniger Jahre hatte sich eine große schwul-lesbische Community gebildet. "Park Slope wurde ein Anteil nehmender, liberaler und toleranter schwuler Stadtraum", schreiben Lees, Slater und Wyly.
Neben Privatinitiativen förderte anfangs nur der örtliche Gasversorger Brooklyn Union Gas die Modernisierung verschiedener Brownstones und machte Gelder dafür locker. Natürlich hoffte das Unternehmen, neue zahlungskräftige Mittelschichtkunden anzulocken, was ja auch gelang. Wegen seiner Brownstone-Architektur, die längst wieder hip war, wurde Park Slope (wie Barnsbury) 1973 zum erhaltenswerten Stadtteil erklärt. Ab 1977 stiegen dann die Banken ins Geschäft ein und legten eigens für Park Slope Kreditprogramme auf (die Citibank verteilte sogar Beutel mit einem Park-Slope-Logo drauf), und auch die Stadt New York mischte mit. Obwohl es anders als in Barnsbury Leerstand gegeben hatte, wurden in dieser Phase doch auch alteingesessene Bewohner aus dem Viertel verdrängt, vor allem solche aus ethnischen Minderheiten.
Ähnlich wiederum wie in London wurden auch die Gentrifier von Park Slope seit Mitte der 1990er von der dritten Welle der Supergentrifizierung erfasst, die hier vom Wall-Street- und New-Economy-Personal ausging. Dieses brauchte auch nicht mehr die Unterstützung der Banken, sondern bezahlte eine halbe Million Dollar einfach mal so per Scheck. Hinzu kam, dass die Stadt New York 1997 per Gesetz alle Wohnungen, die für mehr als 2000 Dollar vermietet wurden, von jeglicher Mietregulierung ausnahm. Vermieter konnten für diese Wohnungen vom nächsten Mieter verlangen, was sie wollten. Die darauffolgende Mietenexplosion in Manhattan trieb dann noch mehr Banker und Internetleute nach Brooklyn, worauf die frühen Gentrifizierer in angrenzende Viertel auswichen. Die Gentrifizierung breitete sich also wie ein Dominoeffekt durch Brooklyn aus.
In den beiden Beispielen Barnsbury und Park Slope wird bereits die ganze Gemengelage der Gentrifizierung sichtbar: Staatliche Gesetze, Eingriffe der Stadtverwaltungen, Immobilienspekulation, aber auch der Traum der frühen Gentrifier von nichtelitären oder gar alternativen Lebensformen sowie die Globalisierung tragen alle dazu bei, dass sich die Entwicklung immer weiter verschärft, die Preisspirale immer weiter nach oben - und nur nach oben – dreht.
Die Gentrifizierungsforschung versucht nun, diesen Prozess nicht nur zu dokumentieren, sondern auch theoretisch zu erklären. Dabei gibt es zwei Hauptrichtungen, die jeweils von einer anderen Frage ausgehen.
Production-side Theory: Warum wird gentrifiziert?
Als das Problem der Gentrifizierung in den 1970ern unübersehbar geworden war, stellte sich die Frage: Warum kommt dieser Prozess überhaupt in Gang? Die Mainstream-Ökonomie konnte ihn zunächst nur damit begründen, dass der Zug von Mittelschicht und Kapital zurück in die Innenstädte in veränderten "Präferenzen" (ökonomischer Jargon für Vorlieben und Werte als Auslöser für eine ökonomische Handlung) begründet sei. Warum aber hatten sich die Präferenzen geändert, wo doch viele Innenstadtviertel sichtbar heruntergekommen waren?
Eine Erklärung lieferte dann 1979 der US-amerikanische Geograph und Stadtforscher Neil Smith: die Theorie des Rent Gap, der Renten-Kluft. Rente ist dabei im ökonomischen Sinne eines allgemeinen Einkommens aus Immobilien – und nicht aus Arbeit – gemeint, entweder als Miete oder Pacht oder als Gewinn, der dort selbst erwirtschaftet wird (und hat nichts mit der Altersrente zu tun). Smith ging dabei von der Dynamik des Kapitalismus aus.
Kapital wird investiert, um neue Märkte und Profitmöglichkeiten zu erschließen, neue Technologien werden entwickelt, um die Produktivität zu erhöhen, neue Standorte erschlossen. Diese Dynamik führt dazu, dass ältere Investitionen mit der Zeit entwertet werden, weil neue, bessere Möglichkeiten für Profit entstehen. Joseph Schumpeter hat diesen Prozess 1934 als "kreative Zerstörung" bezeichnet.
Nun kann man Maschinen, Arbeitskräfte und Geld dahin bewegen, wo die neuen Möglichkeiten locken, Immobilien jedoch nicht. Sie sind gewissermaßen im Boden verankertes Kapital, mit einem Problem: Ihre Gebäude altern und eignen sich plötzlich nicht mehr für neue Produktionsformen, ihre Standorte liegen plötzlich abseits neuer Verkehrsadern. Friedrich Engels hat dies bereits 1872 beschrieben: Obwohl Grundstücke vor allem im Zentrum wachsender Großstädte einen enormen Wert haben, "drücken die Gebäude, die auf ihnen errichtet wurden, diesen Wert, anstatt ihn zu erhöhen, weil sie nicht länger zu den veränderten Umständen passen".
Die tatsächliche Grundrente, die der Eigentümer aus einer Immobilie herausziehen kann, sinkt deshalb mit der Zeit. Demgegenüber steht eine potenzielle Grundrente, die der Eigentümer erwirtschaften könnte, wenn er die Immobilie modernisieren und "optimal" unter den veränderten Umständen nutzen könnte. Es bildet sich also eine Kluft zwischen der tatsächlichen und der potenziellen Grundrente - eben das Rent Gap.
Solange diese Kluft gering ist, wird der Eigentümer nicht weiter in eine Immobilie investieren, sondern erst einmal das herausholen, was möglich ist. Aus der Sicht des Kapitalisten ist das sogar eine rationale Entscheidung. Die Folge ist aber ein schleichender Verfall, vor dem die bisherigen Bewohner – wenn sie wohlhabend genug sind – in die Vorstädte fliehen. Begünstigt wurde diese Entwicklung auch durch die Massenmotorisierung der Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, die ein Pendeln mit dem Auto erst möglich machte. Lees, Slater und Wyly betonen, dass Arbeiterklasse, gesellschaftliche Randgruppen und ethnische Minderheiten immer erst nach dem Beginn des Verfalls einziehen können (weil erst dann die Mieten gesunken sind), dieser Verfall aber gerade ihnen in einer Verdrehung der Tatsachen in die Schuhe geschoben werde.
"Gentrifizierung tritt dann auf, wenn die Kluft groß genug geworden ist, dass Immobilienentwickler Parzellen billig kaufen, die Baufirma und die Zinsen für Kredite zahlen und dann das Endprodukt zu einem Preis verkaufen können, der ihnen einen zufrieden stellenden Gewinn einbringt... Das Viertel ist 'recycled' worden und tritt in einen neuen Nutzungszyklus ein", schrieb Smith 1979.
Nach Smith ist Gentrifizierung also "ein strukturelles Produkt des Immobilien- und Wohnungsmarktes. Das Kapital fließt dahin, wo die Gewinnspanne am höchsten ist, und die Abwanderung des Kapitals in die Vorstädte, zusammen mit einer kontinuierlichen Abwertung des innerstädtischen Kapitals, produziert das Rent Gap. Wenn es groß genug ist... fließt das Kapital zurück."
Als Smith diese Theorie veröffentlichte, fanden viele sie so offensichtlich, dass sie sich wunderten, warum das bis dahin noch niemand aufgeschrieben hatte. Den Mainstream-Ökonomen stießen hingegen Smiths Bezüge zu Marx und Engels sauer auf. Sie waren in ihren theoretischen Modellen immer davon ausgegangen, dass die Grundrente einer Immobilie unabhängig von ihrer konkreten Nutzung sei (was natürlich überhaupt nicht der Realität entspricht). Der Streit darum hält bis heute an.
Die Theorie vom Rent Gap ist allerdings nicht ohne Probleme: Erstens ist die Kluft empirisch schwer zu messen; und zweitens unterstellen auch Smith und andere Vertreter genau wie die Mainstream-Ökonomie allen Akteuren, dass ihre Handlungen im Wesentlichen nur aus der ökonomischen Rationalität der Profitmaximierung folgen, so dass alle Gentrifizierer nur als "ruchlos akkumulierende Kapitalisten" begriffen werden. Letzteres stellt der nächste Erklärungsansatz in Frage.
Consumption-side Theory: Wer sind die Gentrifizierer?
Bereits 1973 veröffentlichte der US-amerikanische Soziologe Daniel Bell das Buch The Coming of Post-Industrial Society (dt. Die Nachindustrielle Gesellschaft). Darin stellte er die These auf, dass sich die Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft wandeln würde, in der Berufe in Management, Medien, Kultur, Forschung und Entwicklung am wichtigsten würden, und dass die Konsumkultur künftig von einer künstlerischen Avantgarde und nicht mehr von Medien, Unternehmen oder dem Staat geprägt würde.
Der Stadtforscher David Ley entwickelte aus Bells These einen Erklärungsansatz für Gentrifizierung: In der nachindustriellen Gesellschaft nehme eine "kulturelle neue Klasse" die Innenstädte in Beschlag, weil sie hier einen anderen Lebensentwurf als die alte Mittelschicht, die in die Vorstädte abgewandert war, umsetzen könne. Auch der Geograph Chris Hamnett nahm Bell als Ausgangspunkt: Gentrifizerung tritt auf, weil die westlichen Großstädte sich von Zentren der Industrieproduktion zu Zentren für Dienstleistungen und die Kulturindustrie wandeln. Deren Biotope sind aber nicht die Vorstädte, sondern die Innenstädte, nicht nur, weil die Innenstädte "aufregender" sind, sondern auch, weil die Arbeit nicht mehr in Fabriken stattfindet und die Trennung zwischen Wohnen und Arbeiten hier am ehesten aufgehoben werden kann. Wenn kleine Büros, Ateliers und Werkstätten in Innenstädten entstehen, wird auch das Pendeln überflüssig.
David Ley, Jon Caulfield und andere nahmen dann in den 1970ern und 1980ern die Gentrifizierer in den westlichen Großstädten genauer unter die Lupe. Was sie fanden, waren nicht die "ruchlosen Kapitalisten", sondern ein linksliberales Milieu, das seine Wurzeln in der Hippie-Gegenkultur der 1960er hatte, das Leben im bürgerlichen Suburbia und die Stadtplanung der Moderne verachtete und Werte wie Antirassismus und soziale Gerechtigkeit hochhielt.
Die feministische Stadtforscherin Damaris Rose sorgte 1984 mit einem Aufsatz für Aufsehen, in dem sie darauf hinwies, dass alleinstehende Frauen und Doppelverdiener-Haushalte eine wichtige Rolle für die Gentrifizierung spielten. Die Innenstädte boten bessere Sozialeinrichtungen und machten es auch leichter, Hausarbeit mit dem Job zu vereinbaren und mit dem Partner zu teilen, als dies damals in den gutbürgerlichen Vorstädten möglich war. Ann Markusen kam gar zu dem Schluss: "Gentrifizierung ist zu einem großen Teil das Ergebnis des Zusammenbruchs des patriarchalen Haushalts."
Manuell Castells sah 1983 die Wandlung des Castro-Viertels in San Francisco zum schwulen Stadtteil (kürzlich im Kino in "Milk" zu sehen) ebenfalls als Gentrifizierungsprozess. Der Zuzug zahlreicher Schwuler ins Castro habe eine Immobilienspekulation in Gang gesetzt, die vorher ansässige Hispanics verdrängt habe. Castells schrieb: In einer nach wie vor männlich dominierten Gesellschaft seien gut ausgebildete und kreative schwule Männer "in einer exzellenten Position, Gentrifizierer zu werden."
In diesen Analysen entpuppt sich Gentrifizierung also auch als Folge einer Gegenstrategie gegen alt-bürgerlichen Muff, des Individualismus der 68er-Bewegung und der Flucht vor sozialer Repression in die Innenstädte. Aus guten Absichten wurde also eine schlechte Praxis, weil mit den anderen, auf die die Gentrifizierer trafen, keine wirkliche Nachbarschaft aufgebaut wurde. Die anderen – Arbeiter, Migranten, sozial Schwache – wurden nur als "soziale Tapete" geschätzt, aber als mehr auch nicht, wie es Tim Butler ausgedrückt hat.
Ein Problem mit diesen Erklärungsansätzen ist allerdings, dass die Nichtgentrifizierer, also alle, die schon vorher da waren und zum Teil aus ihren Vierteln verdrängt wurden, von der empirischen Forschung bisher kaum untersucht worden sind. Diese hat sich zu sehr auf die Gentrifizierer konzentriert. Die Consumption-side Theory ist zwar eine wichtige Ergänzung, hilft aber nicht, Strategien gegen Gentrifizierung zu entwickeln.
Was folgt daraus?
Trotz der zwiespältigen Befunde der Consumption-side Theory über die Gentrifizierer betonen Lees, Slater und Wyly, dass das in der Debatte verbreitete Yuppie-Bashing allzu simpel gestrickt sei. Sie schreiben: "Wir sollten immer darauf achten, dass die Kritik auf die Regeln und Ungleichheiten beim Grundeigentum konzentriert werden, und gut nachdenken, bevor man die Invididuen, die nach diesen Regeln spielen, diffamiert." Denn die Gentrifizierer sind keine homogene soziale Gruppe. Gemeinsam ist ihnen höchstens, dass sie besser ausgebildet sind und deshalb ein höheres Einkommen erzielen können.
Letztlich haben Neil Smith und Peter Williams schon 1986 die notwendigerweise radikale Lösung des Problems beschrieben:
"Langfristig gibt es nur eine Verteidigung gegen Gentrification: die 'Dekommodifizierung' von Wohnraum [ihn also nicht mehr als frei handelbare Ware zulassen, nbo]... Menschwürdiger Wohnraum und menschenwürdige Quartiere sollten ein Recht sein, kein Privileg. Das durch eine Reihe von Reformen zu erreichen, ist natürlich unwahrscheinlich; dazu ist vielmehr eine politische Umstrukturierung nötig, die drastischer ist alle bisherigen sozialen und geografischen Umstruktierungen."
Quelle für diesen Text
- ↑ Loretta Lees, Tom Slater und Elvin Wyly: Gentrification, Routledge 2007, bisher nur auf Englisch erschienen