Henri Lefebvre und die Frage der Autogestion: Unterschied zwischen den Versionen
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- Khayati, Mustapha: Über das Elend im Studentenmilieu, Hamburg 1977 (Orig.: 1966) | - Khayati, Mustapha: Über das Elend im Studentenmilieu, Hamburg 1977 (Orig.: 1966) |
Version vom 26. Mai 2011, 21:45 Uhr
Autor: Klaus Ronneberger
Aus dem umfangreichen Oeuvre Henri Lefebvres (1901-1991) werden gegenwärtig vor allem seine Arbeiten zum Raum rezipiert. Seine vehemente Kritik an allen Formen von Herrschaft, die sich wie ein roter Faden durch seine Texte zieht, findet hingegen weniger Beachtung. Dabei hat der französische Philosoph den größten Teil seines politischen Lebens stets an zwei Fronten gekämpft: Kritik des kapitalistischen Gesellschaftssystems und Kritik des dogmatisch-orthodoxen Marxismus. In vielen Punkten überschreitet Lefebvre die Programmatik des „offiziellen“ Marxismus, der vor allem auf die Eroberung des Staatsapparates und die zentralisierte Planung der Produktion durch die organisierte Arbeitermacht setzt.
Er hingegen erklärt den Alltag zur entscheidenden Kategorie für den Zusammenhang von Ökonomie und Lebenspraxis der Individuen. Eine Veränderung des alltäglichen Lebens müsse durch den Eingriff aller Betroffenen geschehen und nicht nach den Normen der Repräsentativ-Demokratie. „Auf dieser Ebene hat die Assoziation der Interessen und der Interessierten ihren Namen. Sie heißt Selbstverwaltung.“ (Lefebvre 1967: S. 48, zit. nach Vranicki 1974: S: 902) Die Idee der autogestion (der franz. Begriff deckt sich weder ganz mit „Selbstverwaltung“ noch mit „Partizipation“) erscheint ihm als Mittel und Zweck, mit dem das „Absterben des Staates“ vorangetrieben werden kann.
Entfremdung und Aneignung
Für das Denken von Henri Lefebvre bilden die Frühschriften von Karl Marx einen zentralen Bezugspunkt. Er versteht sie als Aufforderung, jene Kategorie zum Ausgangspunkt, die er für die fundamentale Ebene der gesellschaftlichen Wirklichkeit hält: die Produktion. Aber für was steht dieser Begriff? Die klassische „Kritik der Politischen Ökonomie´“ hatte die Produktion in der Fabrik verortet, Lefebvre hingegen hält dies für eine unangemessene Reduktion der Wirklichkeit: „Der marxistische Dogmatismus hat ihn (den Menschen d. A.) durch und für die Arbeit als Produzenten definiert. Allerdings schafft der handelnde Mensch auch die menschliche Welt und indem er produziert, produziert er sich selbst. Er produziert nicht nur Dinge, Werkzeuge oder Güter, er produziert auch Geschichte und Situationen.“ (Lefebvre 1975: 106ff; Orig. 1961) Für ihn umfasst der Begriff der Produktion auch die Produktion der gesellschaftlich-sozialen Beziehungen und „im weitesten Sinne, die Reproduktion.“ (Lefebvre 1972: S. 48ff; Orig. 1968)
Mit der Ausweitung des Produktionsbegriffs beabsichtigt Lefebvre die menschliche Praxis ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Damit soll der produktive Charakter sämtlicher menschlicher Tätigkeiten rehabilitiert werden. In diesem Zusammenhang wirft er dem orthodoxen Marxismus nicht nur eine Verengung der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf die Ökonomie vor, sondern auch, dass mit dem Primat der Ökonomie, theoretisch genau jene Reduktion menschlicher Tätigkeiten vorgenommen werde, wie sie die kapitalistische Produktionsweise real praktiziere. Aufgrund solcher ökonomistischen Ideologien sei auch „der Begriff der Aneignung aus dem marxistischen Denken buchstäblich verschwunden.“ (Lefebvre 1972: S. 265; Orig. 1968)
Konsequent macht deshalb Lefebvre die Verwirklichung des Menschen zum Focus seiner Gesellschaftsanalyse: Der Mensch verwirkliche sich, insofern er sich „seine Welt“ aktiv aneigne. Der Begriff der Aneignung fungiert für ihn als Gegenpol zum Begriff der Entfremdung. Diesen Terminus verwendet Lefebvre in einem viel umfassenderen Sinne als Marx, der ihm zufolge dazu tendiert habe, „die vielfältigen Formen beiseite zu lassen, um die Entfremdung einheitlich durch ihren Grenzfall zu definieren: als die Verwandlung der menschlichen Tätigkeiten und Verhältnissen zu Dingen, bewirkt durch die ökonomische Fetische, das Geld, die Ware, das Kapital.“ (Lefebvre 1975: S. 35; Orig. 1961). Formen der Entfremdung verortet Lefebvre nicht nur in den kapitalistischen Produktions- und Arbeitsverhältnissen, sondern auch in den vielfachen Zwängen, die die Gesamtheit des Alltagslebens mit strukturieren.
Lefebvres Kritik des Alltagslebens beschränkt sich nicht nur auf die Reproduktionssphäre, sondern hat den gesamten Vergesellschaftungsprozess im Blick. Sie schließt somit eine Kritik der politischen Ökonomie mit ein und überschreitet diese zugleich. Erklärtes Ziel seines Erkenntnisinteresses ist insbesondere eine „Aufwertung der Subjektivität“ (Lefebvre 1978: S. 27; Orig. 1962) und die Suche nach Spielräumen für Autonomie und Kreativität. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Begriff des „Werks“, der den viel enger gefassten Marx'schen Begriff der Arbeit ersetzen soll. Dieser Terminus ist nicht mit einer künstlerischen Tätigkeit gleichzusetzen, sondern bezeichnet auf der gesellschaftlichen Ebene „die Tätigkeit einer Gruppe, die ihre Rolle und ihr gesellschaftliches Schicksal in die Hand und in Pflege nimmt, mit anderen Worten Selbstverwaltung.“ (Lefebvre 1972: 276; Orig. 1968)
Autogestion in Frankreich
Die Idee der Selbstverwaltung ist nicht nur im sozialistischen Jugoslawien, sondern auch innerhalb der französischen Linken propagiert worden. Beschränkt man sich auf die Zeit nach 1945, lassen sich diesbezüglich bestimmte politische Konjunkturen erkennen.
In der Ära des „Kalten Krieges“ dominieren zunächst die moskautreue Parti Communiste Francaise (PCF) und die mit ihr liierte Gewerkschaft, der Confédération Générale du Travail (CGT) die proletarischen Milieus. Ihre Kontrolle über den größten französischen Gewerkschaftsverband, den Aufbau eine Parteipresse in Millionenauflage und die Fülle der Massenorganisationen führen zu einer Art geschlossenen Gegengesellschaft. Neben dem übermächtigen stalinistischen Block existieren lediglich linksradikale Splittergruppen.
Doch im Laufe der 1950er Jahre bekommt die Hegemonie der PCF im linken Lager erste Risse mit den Aufständen in Ostdeutschland (1953), Polen und Ungarn (1956) sowie den Enthüllungen von Nikita Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU (1956) über die Verbrechen Stalins. Vor allem die Rechtfertigung der sowjetischen Militärintervention in Budapest und die zustimmende Haltung zur kolonialen Algerienpolitik der französischen Regierung diskreditierten das Ansehen der PCF. In dieser Zeit wendet sich auch Henri Lefebvre von der Partei ab.
Angesichts der veränderten politischen Lage kann die libertäre Linke im Umfeld von Zeitschriften wie Socialisme ou Barbarie (1949-1969) oder Situationniste International (1957-1972) an Einfluss gewinnen. Vor allem die Gruppe Socialisme ou Barbarie (SouB) erweist sich als Motor der Entstalinisierung innerhalb des linken Milieus. Als übergreifende Entwicklung gehen die Vertreter diese Strömung von der Existenz eines bürokratischen Kapitalismus aus, der sich im Osten in „zentralisierter“ und im Westen in „fragmentierter“ Form zeige. Cornelius Castoriadis (1922-1997), wichtiger Vordenker dieser Gruppe, baut dann die Bürokratisierungsthese systematisch aus. Er konstatiert eine zunehmende Verschmelzung von Ökonomie und Staat, das Ersetzen der Bourgeoisie durch eine bürokratische Klasse und eine wachsende Verstaatlichung aller Lebensbereiche. Dieser Tendenz stellt er die Arbeiter-Selbstverwaltung und die Unabhängigkeit des Proletariats von Parteien und Gewerkschaften gegenüber.
Das Modell der autogestion greift auch die Situationistische Internationale (SI) auf, zu der Henri Lefebvre zeitweilig engere Kontakte pflegt. Diese avantgardistische Gruppe von Künstlern und Intellektuellen steht in der Tradition des Dadaismus und Surrealismus. Zunächst tritt die SI mit dem Konzept an, die getrennten Sphären von Kunst und Politik zu überwinden. 1960 wird Guy Debord (1931-1994), intellektueller Kopf der Situationisten, für kurze Zeit Mitglied der SouB und bekommt hier wichtige theoretische Impulse, gerade auch was den Rätegedanken betrifft. In Die Gesellschaft des Spektakels (1978; Orig. 1967) kritisiert er nicht nur die Trennungen zwischen Arbeit und Freizeit, sondern auch die umfassende technokratische Verwaltung der menschlichen Existenzbedingungen: Entfremdung werde nicht nur in der Produktionssphäre produziert, sondern kennzeichne alle Lebensbereiche.
Die determinierten Wahrnehmungs- und Handlungsweisen der Menschen können jedoch durch die „Konstruktionen von Situationen“ aufgebrochen werden, in denen das Individuum sich spielerisch neu definiert. Die Theorie der Konstruktion als kulturelle Form revolutionärer Praxis findet dann seinen Widerhall in den antiautoritären Aktionsformen der Neuen Linken. Doch die Dekonstruktion des Alltags stellt nur den ersten Schritt dar. Als zweiten Schritt propagiert etwa Mustapha Khayati, Mitglied der SI, in dem Pamphlet Über das Elend im Studentenmilieu (1977; Orig.: 1966) die autogestion géneralisée („generalisierte Selbstverwaltung“) als kulturrevolutionäres Projekt, mit dem die Herrschafts- und Sozialnormen der kapitalistischen Gesellschaft unterlaufen werden sollen.
1966 kommt es zur Gründung der Zeitschrift Autogestion, die für zwei Jahrzehnte die wichtigste Diskussionsplattform in Sachen Selbstverwaltung darstellt. Mitglieder der SouB und kritische Marxisten tragen zur Profilierung des autogestion-Konzepts bei. So setzt sich in der ersten Ausgabe Henri Lefebvre mit Pierre-Joseph Proudhon, einem der Vordenker der Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, auseinander: Dieser habe den Staat von den „starken“ Stellen aus, also beispielsweise mit einer Reorganisation im Bereich des Bankenwesens, zurückdrängen wollen. Doch entsprechende Versuche seien entweder ökonomisch gescheitert oder vom Kapitalismus absorbiert worden. Die Selbstverwaltung müsse vielmehr in den „schwachen“ Zonen der Gesellschaft beginnen. Dort gebe es Raum für neue soziale Kräfte, die die starken Stützen des Kapitalismus unterminieren könnten. Aber nur dann, wenn sich das System bereits in der Zersetzung befinde. Wie die Situationisten erweitert Henri Lefebvre den Begriff der Selbstverwaltung: Er steht jetzt für eine praktizierbare Utopie, die die Kluft zwischen Reform und Revolution überbrücken soll.
Nur wenig später taucht in der französischen 68er-Mai-Bewegung die Forderung nach autogestion als zentrale Parole auf. Die Revolte beginnt in der Pariser banlieu, der Fakultät von Nanterre, dann springt sie auf die Hauptstadt über, um schließlich das ganze Land zu erfassen. Ohne dass es zu einem Aufruf der Gewerkschaftszentralen kommt, befinden sich binnen weniger Tage fast zehn Millionen Menschen im Ausstand. Es ist der größte Generalstreik, den das Land je erfährt. Dafür sind nicht nur ökonomische Ursachen, sondern auch betrieblichen Autoritätsstrukturen verantwortlich zu machen. Der Erfolg der Studentenschaft bei der Durchsetzung ihrer Forderungen gegen die Regierung wirkt dabei als Vorbild. Die Gewerkschaft CFDT (Conféderation Francaise Démocratique du Travail), programmatisch der Neuen Linken nahestehend, verleiht den spontanen Streiks eine neue Dimension, indem sie autogestion zum ersten Mal in einer öffentlichen Erklärung verwendet. Die antihierarchische Stoßrichtung des Begriffs reicht aus, um die Forderungen der Studenten und der Arbeiterschaft zu vereinen. Doch die Idee der Selbstverwaltung kann sich – trotz zahlreicher Versuche in den besetzten Betrieben – nicht auf Dauer institutionalisieren.
Hatte Henri Lefebvre seine Vorstellungen von autogestion aus seiner kritischen Marx-Lektüre und den Erfahrungen der Pariser Kommune von 1871 geschöpft, so wird jetzt die 68er-Bewegung für ihn zu einer wichtigen Inspirationsquelle. In dem Buch Aufstand in Frankreich. Zur Theorie der Revolution in hochindustrialisierten Ländern (1969; Orig.: 1968) stellt er die Selbstverwaltung als konfliktuelle Praxis vor, die eine „Bresche in das bestehende System der Entscheidungszentren“ (S. 78) schlage. Es sei falsch, „diesen Prozess auf die Verwaltung der ökonomischen Angelegenheiten (Unternehmen, Industriezweige usw.) zu beschränken. Selbstverwaltung impliziert eine gesellschaftliche Erziehung. Sie setzt eine neue soziale Praxis auf allen Ebenen voraus.“ (a. a. O.) Einschränkend fügt er hinzu, dass der Vorgang der Selbstverwaltung durch den Rückzug auf korporative, partikulare Interessen auch wieder umkehrbar sei. Autogestion bedeutet für Lefebvre auch gelebte Kritik an der repräsentativen Demokratie. Die unterschiedlichen Interessen der Basis müssten präsent sein und nicht ‚repräsentiert“, d. h. auf Mandatsträger, delegiert werden. Technisch gesehen könne sich die Organisation der Selbstverwaltung auf die neusten Produktivkräfte stützen (Computer etc.)
In den 1970er Jahren gewinnt die Idee der autogestion bei der CFDT, trotzkistischen, anarchistischen und rätekommunistischen Linken immer mehr an Bedeutung. Selbst die Parti Socialiste (PS) spricht sich jetzt für einen selbstverwalteten Sozialismus aus. Damit kann sich die Partei gegenüber den Kommunisten profilieren und gleichzeitig ihre Anschlussfähigkeit gegenüber den sozialen Bewegungen demonstrieren. Schließlich übernimmt sogar die PCF den Begriff, ohne damit eine inhaltliche Veränderung ihrer politischen Programmatik vorzunehmen.
Diese politische Konstellation führt bei Henri Lefebvre zu einer erneuten Reflexion, was autogestion und die Rolle des Staates anbetrifft. Das Verhältnis von staatlicher Macht und Gesellschaft hatte er zwar immer wieder analysiert, doch erst im Laufe der 1970er Jahre systematisiert er diesbezügliche Überlegungen. In seinen vier Bänden zum Staat (1976-78) kritisiert Lefebvre die politische Theorie, die ihmzufolge den Begriff des Raumes sträflich vernachlässige. Dagegen fordert er eine umfassende Verräumlichung aller politischen und ökonomischen Konzepte: Der Raum stelle ein entscheidendes Instrument des Staates zur Kontrolle der gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen Individuen und sozialen Gruppen dar.
Lefebvre geht von einer Mondialisierung (ins Deutsche schwer übersetzbar: „Generalisierung“) des Staates aus, die eine neue Gesellschaftsformation entstehen lässt: die mode de production étatique (MPE) („staatliche Produktionsweise“). Bereits durch die Politik des US-amerikanischen „New Deal“ der 1930er Jahre, den Faschismus und Stalinismus angekündigt, realisiere sich die MPE nun in allen entwickelten Industriegesellschaften. Der Staatssozialismus im Osten und Staatskapitalismus im Westen sind für Lefebvre nur noch als partikulare Ausprägungen einer gleichartigen Formation zu verstehen. Typisch für die staatliche Produktionsweise sei die Verstärkung und Ausweitung der etatistisch-bürokratischen Kontrolle von gesellschaftlichen Räumen unter eine Strategie der Produktion und Konsumption. Dieser Prozess muss für ihn nicht notwendigerweise eine direkte Verstaatlichung der Produktionssphäre bedeuten, sondern kann die unterschiedlichsten Formen annehmen: Koordination, Konzentration, Regulierung, Planifizierung stellen „weiche“ Formen von staatlicher Herrschaft dar; die in Krisensituationen gegebenenfalls auch in repressive Praktiken umschlagen.
Das Gesellschaftsprojekt des MPE ist auf die Homogenisierung und Rationalisierung aller Bereiche des Sozialen ausgerichtet. Sie beschränkt sich nicht nur auf die Ökonomie, sondern greift in das gesamte Alltagsleben ein. Doch die Durchsetzung des MPE sorgt nach Lefebvre zugleich dafür, dass der staatlichen „Rationalität“ auf allen räumlichen Ebenen Widerstände erwachsen. Denn der Staat steht nach seiner Ansicht vor einem unausweichlichen Dilemma: Einerseits muss er den Raum offen halten für die Ansprüche der kapitalistischen bzw. sozialistisch-bürokratischen Produktion und Zirkulation. Andererseits trifft er auf die Bewegung der Raum-Benutzer, die eine vollständige Unterwerfung des Raumes unter die Direktiven der staatlichen Produktionsweise nicht hinnehmen wollen – ist es doch der Raum, der ihr Leben, ihre Alltäglichkeit trägt. Dieses Aufbegehren zwingt den Staat zur Offenlegung der Wahrheit, dass nämlich staatliche Rationalität und Polizei, Raumplanung und Gewalt zusammengehören.
Bei den widerständigen Raum-Benutzern hat Lefebvre die gesamte „Graswurzelbewegung“ im Blick: Stadtteilkomitees, Bürgerinitiativen, Haus- und Fabrikbesetzer, Verbrauchorganisationen, nicht-kooperatistische Gewerkschaften, die Aktivitäten der Frauen-, Alternativ- und Friedensbewegung. Die dezentrale, basisdemokratische Kontrolle bietet für ihn die sicherste Gewähr, dass die gesellschaftlichen Forderungen auf einen bestimmten Raum bezogen werden, um so ihrer Ent-Konkretisierung und Entleerung zu entgehen. Nach seiner Meinung sind fast alle Lebensverhältnisse der Menschen an Räume gebunden bzw. werden darüber ausgedrückt. Deshalb erweist es sich für Lefebvre als notwendig, der staatlichen Verwaltungsrationalität eine auf den Raum bezogene „autogestion territoriale“ entgegenzusetzen. Die Erfolgsaussichten der sozialen Bewegungen steigen nach seiner Ansicht, wenn sich der Staat angesichts des globalen ökonomischen Drucks überfordert sieht und deshalb aus der Not heraus sich dazu veranlasst sieht, Macht und Funktionen nach „unten“ zu delegieren.
Abschied vom Selbstverwaltungsgedanken
Entgegen der Hoffnung von Henri Lefebvre beginnt in den 1980er Jahren die Idee der Selbstverwaltung ihre mobilisierende Kraft zu verlieren. Die CFDT gibt die Forderung nach autogestion auf und auch bei der PS verschwindet der Begriff aus der Programmatik.
Für diese Entwicklung ist eine Reihe von Gründen verantwortlich zu machen: Im Laufe der 1970er Jahre gerät das fordistische Wachstumsmodell in eine doppelte Krise. Einerseits erschöpfen sich die Produktivitätsreserven der tayloristischen Arbeitsorganisation, andererseits versagen mit der wachsenden Internationalisierung der Ökonomie die Instrumentarien des keynesianischen Wohlfahrtsstaates. Doch nicht nur die ökonomische Krise, sondern auch die veränderten Alltagspraktiken der Kollektive tragen entscheidend dazu bei, dieses Vergesellschaftungsmodell zu erschüttern. Es kommt zu sozialen Bewegungen, die die autoritären und hierarchischen Strukturen des Fordismus attackierten und für ihr Leben „Autonomie“ und „Selbstverwirklichung“ einfordern. Die Intensität der Kämpfe und die Freisetzung von „autonomer Subjektivität“ führen jedoch nicht zu einer grundlegenden Veränderung des Systems, vielmehr gelingt es dem Kapitalismus durch neue Identitäts- und Konsumangebote auf Wünsche oder Forderungen der sozialen Bewegungen einzugehen.
So greift das Projekt des Neoliberalismus die Kritik am autoritären Wohlfahrtsstaat auf und wendet sie zugleich gegen die Subjekte. In dieser Beziehung lässt sich eine Konvergenz zwischen linksalternativen und konservativen Strömungen feststellen. Denn die Staats- und Bürokratiekritik ist einer der entscheidenden ideologischen Diskurse, mit denen die kapitalistische Restrukturierung vorbereitet wird.
Damit deuten sich auch die Grenzen der Alltagskritik von Lefebvre an. Die Wirkung seines Werks war auf eine Konstellation zurückzuführen, die derzeit nicht vorzufinden ist – auf die Verbindung von kritischer Theorie mit einer breiten sozialen Bewegung, die den Alltag grundlegend verändern will. Entgegen seinen Vorstellungen, dass eine Entwicklung hin zur Selbstverwaltung fast unvermeidbar sei, ist der Kapitalismus aus der Krise der fordistischen Vergesellschaftung gestärkt hervorgegangen. Er hat sich als absorptionsfähig erwiesen, Forderungen nach „Autonomie“ aufzugreifen und für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Die einstmals gegen den Kapitalismus mobilisierten Eigenschaften wie „Subjektivität“ und „Kreativität“ sind zu einem wichtigen Rohstoff ökonomischer Verwertungsprozesse geworden. Dafür steht auf der städtischen Ebene auch das neoliberale Leitbild von der „kreativen Stadt”.
Was tun?
Ja – Henri Lefebvre war letztlich in die Struktur des „fordistischen Marxismus“ eingebunden und konnte die Dialektik der neoliberalen Restrukturierung nicht mehr hinreichend erfassen. Doch ungeachtet solcher ideologischen Begrenzungen erweisen sich seine Überlegungen zum Verhältnis von Staat und Alltag weiterhin als fruchtbar.
So wird in der öffentlichen Meinung der Prozess der Globalisierung häufig als historische Tendenz aufgefasst, die angeblich zu einem völligen Schwund staatlicher Kompetenzen und Ordnungsbefugnisse führt. Lefebvres zentrale These lautet hingegen, dass die Rolle des Staates bezüglich der Strukturierung der Raumdimensionen im Kontext der kapitalistischen Globalisierung nicht an Bedeutung verliert. Der Staat sei vielmehr als weltumspannender Prozess zu begreifen, der selbst die Globalisierung, den Weltmarkt als eine seiner Dimensionen produziere und nicht von diesem grundsätzlich negiert werde. Lefebvre vermeidet es einer bestimmten Raumdimension eine ursächliche Vorrangstellung zuzuweisen. Auf jeden Fall wird seiner Meinung nach das „Lokale“ nicht vom „Globalen“ verschlungen.
Ebenso erweist sich die These vom „Schlanken Staat“, der sich angeblich mehr und mehr aus der Regulation des sozialen Raums zurückzieht, als irreführend. Die unterstellte Polarität von Staat und Markt lässt unberücksichtigt, dass Marktprozesse immer politisch begründet und gesteuert werden. Lefebvre argumentiert, dass die politisch-staatliche Macht nicht nur in die Ökonomie interveniert, sondern in dieser schon enthalten ist: Jedes Mal, wenn ein Akteur in eine geschäftliche Beziehung zu einem anderem Akteur trete, sei der Staat als „eingeschlossener Dritter“ dabei und garantiere mit seiner Sanktionsmacht die Einhaltung der Verträge. Von einer Preisgabe staatlicher Interventionspraktiken kann nicht die Rede sein. Die „Rückkehr des Staates“ im Zeichen der globalen und europäischen Finanz- und Wirtschaftskrise belegt dies nachdrücklich.
Auch die Frage der „Demokratie“ hat nichts an Brisanz verloren. Die Privatisierung öffentlicher Güter vergrößert den Einfluss von Akteuren, die demokratisch nicht legitimiert sind. An die Stelle von öffentlichen Gesetzgebungs- und Entscheidungsverfahren sind häufig staatlich-private Verhandlungssysteme getreten, die sich einer Kontrolle durch die Öffentlichkeit weitgehend entziehen. Es lässt sich eine Tendenz zur „Eigentümerstadt“ beobachten, wie man sie schon lange aus den USA kennt: Dafür stehen Konzepte wie Public Private Partnership oder Business Improvement Districts. Eigentum ist ein Autoritätssystem, das durch die politische Herrschaftsordnung errichtet wird. Doch der vorherrschende demokratisch-liberale Diskurs konzentriert sich vornehmlich auf Probleme der Autorität im staatlichen Regierungssystem und zeigt wenig Interesse für Fragen, die sich aus jener Autorität ergeben, die im Eigentumsrecht enthalten sind. So gelten in der „Eigentümerstadt“ unterschiedliche Rechts- und Subjektpositionen, was z. B. die Zugänglichkeit von bestimmten Räumen und Orten für subalterne Klassen anbetrifft.
Damit sind zwei Forderungen von Henri Lefebvre weiterhin aktuell: Das „Recht auf Stadt“ und das „Recht auf Abweichung“. Das Recht, nicht von städtischer Zentralität ausgeschlossen und in diskriminierte Randzonen abgedrängt zu werden, und das Recht, sich nicht den Vorgaben homogenisierender Mächte unterwerfen zu wollen.
Literatur
- Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels, Hamburg 1978 (Orig. 1967)
- Georgi, Frank: Selbstverwaltung: Aufstieg und Niedergang einer politischen Utopie in Frankreich von den 1968er bis zu den 80er Jahren. In: Bernd Gehrke/Gerd-Rainer Horn (Hg.): 1968 und die Arbeiter. Studien zum „proletarischen Mai“ in Europa, Hamburg 2007, S. 252-274
- Khayati, Mustapha: Über das Elend im Studentenmilieu, Hamburg 1977 (Orig.: 1966)
Lefebvre, Henri: Einführung in die Modernität. Zwölf Präludien, Frankfurt am Main 1978 (Orig.: 1962)
- ders.: Aufstand in Frankreich. Zur Theorie der Revolution in den hochindustrialisierten Ländern, Voltaire Handbuch 7, 1969 (Orig. 1968)
- ders.: Das Alltagsleben in der modernen Welt, Frankfurt am Main 1972 (Orig. 1968)
- ders.: L’État dans le monde moderne, Paris 1976
- ders.: Théorie marxiste de l’Etat de Hegel à Mao, Paris 1976
- ders.: Le mode de production étatique, Paris 1977
- ders.: Les contradictions de l’Etat moderne, Paris 1978
- Vranicki, Predag: Geschichte des Marxismus, Bd. I u. Bd. II, Frankfurt am Main 1974 (Orig.:1961/1971)